1:1 Ach, wie einsam ist die Stadt geworden,
1:2 die früher voller Menschen war!
1:3 Einst war sie bei allen Völkern geachtet,
1:4 jetzt gleicht sie einer schutzlosen Witwe.
1:5 Sie, die Herrin über viele Länder,
1:6 muss nun als Sklavin Frondienst* leisten.
1:7 Sie weint und klagt die ganze Nacht,
1:8 Tränen laufen ihr über die Wangen.
1:9 Von den Liebhabern, die sie einst begehrten,
1:10 kommt nicht einer, um sie zu trösten.
1:11 Alle Freunde sind ihr untreu geworden
1:12 und haben sich gegen sie gewandt.
1:13 Nach langer Zeit der Not und Bedrängnis
1:14 wurden die Leute von Juda weggeführt.
1:15 Die Verfolger trieben sie in die Enge
1:16 und setzten ihnen grausam zu.
1:17 Unter fremden Völkern müssen sie wohnen
1:18 und können nirgendwo Ruhe finden.
1:19 Die Wege zum Zionsberg* liegen verlassen;
1:20 sie trauern, weil niemand zum Fest kommt.
1:21 Die Tore der Stadt sind trostlose Trümmer,
1:22 die Priester des Tempels* seufzen vor Gram,
1:23 bedrückt sind die Mädchen, die früher dort sangen,
1:24 Jerusalem selbst leidet tödliche Qualen.
1:25 Die Feinde sind auf dem Gipfel des Glücks;
1:26 sie haben endlich erreicht, was sie wollten.
1:27 Der HERR hat der Stadt dieses Leid geschickt
1:28 als Strafe für ihre vielen Vergehen.
1:29 Ihre Kinder hat der Feind geraubt
1:30 und als Gefangene vor sich hergetrieben.
1:31 Die Zionsstadt hat all ihren Glanz verloren:
1:32 Ihre Führer sind wie hungernde Hirsche,
1:33 die nirgendwo ihre Weide finden
1:34 und kraftlos immer weiter fliehen,
1:35 weil der Jäger ihnen auf den Fersen bleibt.
1:36 Die Zionsstadt denkt zurück an die Tage,
1:37 als sie in höchste Bedrängnis geriet.
1:38 Sie denkt traurig an die verlorenen Schätze,
1:39 die sie seit uralter Zeit besaß.
1:40 Sie hatte schwere Schuld auf sich geladen
1:41 und sich selbst zum Gespött gemacht.
1:42 Wer sie früher verehrte, verachtet sie nun,
1:43 weil er sie nackt und schutzlos liegen sah.
1:44 Sie aber seufzt und stöhnt vor Scham
1:45 und wendet ihr Gesicht von ihnen ab.
1:46 Bei ihrem schlimmen Treiben bedachte sie nicht,
1:47 dass sie ihre Unreinheit* nicht verbergen kann.
1:48 Entsetzlich tief ist sie gefallen
1:49 und niemand ist da, der sie trösten will.
1:50 Nun schreit sie: »Sieh doch mein Elend, HERR!
1:51 Höre doch, wie die Feinde prahlen!«
1:52 Die Hand des Feindes hat zugegriffen
1:53 und alle ihre Schätze geraubt.
1:54 Hilflos musste sie es mit ansehen,
1:55 wie die Fremden ins Heiligtum eindrangen,
1:56 Fremde, denen der HERR doch verboten hatte,
1:57 mit seinem Volk dort vor ihn zu treten.
1:58 Alle Bewohner der Zionsstadt stöhnen,
1:59 verzweifelt suchen sie nach Nahrung.
1:60 Sie geben ihren Schmuck für ein Stück Brot,
1:61 damit sie sich am Leben erhalten.
1:62 Laut klagt die Stadt: »HERR, sieh mich doch an!
1:63 Sieh doch, wie sehr man mich verachtet!«
1:64 Allen, die vorübergehen, ruft sie zu:
1:65 »Nichts dergleichen möge euch treffen!
1:66 Schaut her, wo gibt es solche Qualen,
1:67 wie ich sie jetzt erleiden muss?
1:68 Der HERR hat sie mir auferlegt
1:69 am Tag, an dem sein Zorn mich traf.
1:70 Von oben her schickte er Feuer auf mich,
1:71 das in mir wütete und mich bezwang.
1:72 Er spannte sein Netz aus, um mich zu fangen;
1:73 ich lief hinein und stürzte zu Boden.
1:74 Er hat mich völlig zugrunde gerichtet
1:75 und mich für alle Zukunft krank gemacht.
1:76 Alle meine Sünden hat er genommen;
1:77 ein Joch* hat er daraus gemacht,
1:78 das hat er mir auf den Nacken gelegt
1:79 und ich bin darunter zusammengebrochen.
1:80 Er hat mich den Feinden preisgegeben,
1:81 vor denen ich nicht standhalten konnte.
1:82 Meine Krieger, die ich bei mir hatte,
1:83 schob er mit einer Handbewegung fort.
1:84 Er rief die Feinde gegen mich zusammen,
1:85 um meine jungen Männer zu vernichten.
1:86 Wie man Trauben in der Kelter* zertritt,
1:87 so ließ er das Volk von Juda von ihnen zertreten.
1:88 Darum fließen meine Tränen unaufhörlich,
1:89 ich weine mir die Augen aus dem Kopf.
1:90 Ich habe niemand, um mich zu trösten,
1:91 niemand, der mir Erleichterung bringt.
1:92 Meine Kinder haben keine Zukunft mehr,
1:93 die Übermacht der Feinde war zu groß.«
1:94 Die Zionsstadt streckt die Hände aus,
1:95 doch niemand ist da, der sie tröstet.
1:96 Der HERR hat die Nachbarvölker gerufen,
1:97 um sein Volk in die Enge zu treiben.
1:98 Jerusalem ist für sie eine Stadt,
1:99 auf die sie voller Abscheu blicken.
1:100 »Der HERR ist im Recht, wenn er mich straft;
1:101 denn ich habe mich seinem Wort widersetzt.
1:102 Ihr Völker alle, hört meine Klage!
1:103 Seht, welche Qualen ich erdulden muss:
1:104 Meine Mädchen und meine jungen Männer,
1:105 sie mussten fort in die Gefangenschaft!
1:106 Ich rief die Liebhaber, die mich einst begehrten,
1:107 doch sie ließen mich alle im Stich.
1:108 Meine Priester und die führenden Männer,
1:109 elend sind sie umgekommen in der Stadt,
1:110 weil sie nirgends etwas zu essen fanden,
1:111 um sich am Leben zu erhalten.
1:112 HERR, sieh doch, wie verzweifelt ich bin,
1:113 wie es brennt in meinen Eingeweiden!
1:114 Das Herz dreht sich mir im Leibe um!
1:115 Wie konnte ich so widerspenstig sein?
1:116 Draußen raubte mir das Schwert die Kinder,
1:117 drinnen raffte sie die Seuche hin.
1:118 Meine Feinde haben mich stöhnen gehört:
1:119 'Niemand ist da, um mich zu trösten!'
1:120 Sie haben von meinem Unglück gehört
1:121 und sich gefreut, dass du mir das angetan hast.
1:122 Du hast dein Strafgericht über mich gebracht,
1:123 das du mir seit langem angekündigt hattest;
1:124 aber auch ihnen soll es ergehen wie mir!
1:125 Ihre Verbrechen sollen vor dein Gericht kommen;
1:126 zieh sie dafür zur Rechenschaft,
1:127 so wie du es mit mir getan hast
1:128 wegen meiner vielen Vergehen!