2:1 Ach, der Zorn des Herrn liegt auf der Zionsstadt
2:2 wie eine schwere, dunkle Wolke.
2:3 Jerusalem, die Zierde Israels,
2:4 hat er vom Himmel auf die Erde gestürzt.
2:5 An seinem Gerichtstag nahm er keine Rücksicht darauf,
2:6 dass Zion der Fußschemel seines Thrones war.
2:7 Die Dörfer und Felder Israels
2:8 hat er schonungslos vernichtet.
2:9 Alle befestigten Städte in Juda
2:10 hat er zornig niedergerissen.
2:11 Dem Königreich und seinen Fürsten
2:12 hat er ein schändliches Ende bereitet.
2:13 In seinem Zorn hat er alles zerschlagen,
2:14 wodurch Israel stark und mächtig war.
2:15 Im Augenblick, als die Feinde kamen,
2:16 zog er die schützende Hand von uns zurück.
2:17 Er setzte Israel in Flammen
2:18 wie ein Feuer, das nach allen Seiten frisst.
2:19 Wie ein Feind hielt er den Bogen gespannt,
2:20 seine rechte Hand bereit zum Schuss;
2:21 so tötete er unsere blühende Jugend,
2:22 die ganze Freude unserer Augen.
2:23 Er goss seinen Zorn wie einen Feuerstrom
2:24 über das Heiligtum der Zionsgemeinde.
2:25 Der HERR hat uns behandelt wie ein Feind,
2:26 er hat Israel ganz vernichtet;
2:27 die schönen Paläste hat er zerstört,
2:28 die starken Burgen in Trümmer gelegt.
2:29 Nur noch seufzen und stöhnen kann das Volk von Juda.
2:30 Er zertrat sein eigenes Land, den blühenden Garten,
2:31 seine Stadt, in der er wohnen wollte,
2:32 die Stätte, an der wir zu ihm kamen;
2:33 sein Volk ließ er Festtag und Sabbat* vergessen.
2:34 In seinem schrecklichen, glühenden Zorn
2:35 verstieß er den König und die Priester*.
2:36 Von seinem Altar* wollte er nichts wissen,
2:37 sein Heiligtum sah er mit Abscheu.
2:38 Die Mauern und Türme der Zionsstadt
2:39 übergab er in die Gewalt der Feinde.
2:40 In seinem Tempel jubelten die Fremden,
2:41 so wie wir es früher taten bei unseren Festen.
2:42 Es war die erklärte Absicht des HERRN,
2:43 die Mauern Jerusalems niederzureißen.
2:44 Er wollte sie bis auf den Grund zertrümmern
2:45 und hörte nicht auf, bis alles zerstört war.
2:46 Wall und Mauer lässt er trauern,
2:47 denn beide sind zu Schutt geworden.
2:48 Die Tore sind in die Erde versunken,
2:49 ihre festen Riegel schlug er in Stücke.
2:50 König und Fürsten sind in der Fremde,
2:51 von den Priestern kommt keine Weisung mehr;
2:52 auch die Propheten haben nichts zu sagen,
2:53 weil der HERR ihnen keine Botschaft mehr gibt.
2:54 Die erfahrenen Männer der Zionsstadt
2:55 sitzen trauernd am Boden und schweigen;
2:56 sie haben sich Erde auf den Kopf gestreut
2:57 und den Sack* um die Hüften gelegt.
2:58 Die jungen Mädchen von Jerusalem
2:59 lassen bekümmert die Köpfe hängen.
2:60 Von Tränen sind meine Augen ganz blind,
2:61 es brennt und tobt in meinen Eingeweiden,
2:62 Schmerz und Verzweiflung brechen aus mir heraus;
2:63 denn ich sah, wie mein Volk zugrunde ging.
2:64 Kinder und Säuglinge sah ich verschmachten,
2:65 draußen auf den Straßen der Stadt.
2:66 Gequält von Hunger und Durst
2:67 schrien sie laut nach ihren Müttern.
2:68 Wie Verwundete brachen sie zusammen,
2:69 draußen auf den Straßen der Stadt,
2:70 und in den Armen ihrer Mütter
2:71 taten sie den letzten Atemzug.
2:72 Jerusalem, du geliebte Stadt,
2:73 ich weiß nicht, was ich dir sagen soll!
2:74 Mit welchem Schicksal soll ich deins vergleichen,
2:75 um dich zu trösten, du Jungfrau Zion!
2:76 Dein Schaden ist unermesslich wie das Meer!
2:77 Kann dich noch jemand heilen?
2:78 Was deine Propheten dir als Zukunft ankündigten,
2:79 waren nur schöne, bunte Träume.
2:80 Deine Schuld haben sie nicht aufgedeckt,
2:81 sonst hätten sie noch alles zum Guten wenden können.
2:82 Mit ihren leeren Prophetensprüchen
2:83 haben sie dich betrogen und verführt.
2:84 Alle, die an dir vorüberkommen,
2:85 klatschen schadenfroh in die Hände.
2:86 Sie spotten und schütteln ihre Köpfe
2:87 über die Trümmer Jerusalems:
2:88 »Ist das die Stadt, die viel gerühmte,
2:89 die Krone der Schönheit, die Freude der Welt?«
2:90 Deine Feinde überschütteten dich mit Hohn,
2:91 weit rissen sie ihre Mäuler auf,
2:92 sie zischten und zeigten dir drohend die Zähne.
2:93 »Die haben wir erledigt!«, sagten sie.
2:94 »Endlich ist der Tag gekommen,
2:95 auf den wir so lange gewartet haben!«
2:96 Der HERR hat seine Pläne ausgeführt,
2:97 er hat seine Drohungen wahr gemacht.
2:98 Seit langem hatte er es angekündigt,
2:99 nun hat er dich schonungslos zertrümmert.
2:100 Er ließ die Macht der Feinde triumphieren,
2:101 sie durften sich über dein Unglück freuen.
2:102 Jerusalem, lass deine Mauern schreien,
2:103 sie sollen zum Herrn um Erbarmen rufen!
2:104 Lass deine Tränen fließen wie Bäche,
2:105 unaufhörlich, bei Tag und bei Nacht!
2:106 Gönne dir keine Ruhepause,
2:107 lass deine Augen nicht trocken werden!
2:108 Steh immer wieder auf in der Nacht
2:109 und bring deine Klage vor den Herrn!
2:110 Geh und suche seine Nähe,
2:111 schütte dein ganzes Herz bei ihm aus!
2:112 Streck ihm deine Hände entgegen;
2:113 flehe ihn an für deine Kinder,
2:114 die vor Hunger zusammenbrechen,
2:115 draußen an allen Straßenecken!
2:116 »Sieh doch, HERR, schau her zu mir!
2:117 Bedenke, wem du das alles antust!
2:118 Sollten Mütter ihre Kinder essen,
2:119 die Kleinen, die sie auf Händen trugen?
2:120 Durfte man Priester und Propheten töten,
2:121 sogar in deinem Heiligtum?
2:122 Hingestreckt in den Staub der Gassen
2:123 liegen Kinder und alte Leute;
2:124 meine Mädchen und jungen Männer
2:125 sind dem Schwert zum Opfer gefallen.
2:126 Am Tag, an dem dein Zorn mich traf,
2:127 hast du sie mitleidslos hingeschlachtet.
2:128 Alle Schrecken, die mich überfielen,
2:129 riefst du wie zu einem Fest zusammen.
2:130 An jenem Tag, HERR, als dein Zorn losbrach,
2:131 blieb niemand verschont, ist keiner entkommen.