Kapitel 2

2:1 Ach! Wie hat doch der Herr in seinem Zorn

2:2 die Tochter Zion in Wolkendunkel gehüllt!

2:3 Er hat die Zierde Israels

2:4 vom Himmel zur Erde geschleudert

2:5 und an den Schemel seiner Füße nicht gedacht

2:6 am Tag seines Zorns.

2:7 Der Herr hat vertilgt und nicht verschont

2:8 alle Wohnungen Jakobs;

2:9 in seinem Grimm hat er niedergerissen

2:10 die Festungen der Tochter Juda;

2:11 zu Boden geworfen und entweiht hat er

2:12 ihr Königreich samt ihren Fürsten.

2:13 In seinem grimmigen Zorn schlug er ab

2:14 jedes Horn von Israel;

2:15 er zog seine rechte Hand zurück vor dem Feind

2:16 und hat Jakob in Brand gesteckt

2:17 wie ein flammendes Feuer,

2:18 das ringsum alles verzehrt.

2:19 Er spannte seinen Bogen wie ein Feind,

2:20 er stellte sich mit seiner Rechten wie ein Widersacher hin

2:21 und machte alles nieder, was lieblich anzusehen war;

2:22 ins Zelt der Tochter Zion

2:23 goss er seinen Grimm aus wie Feuer.

2:24 Der Herr ist wie ein Feind geworden;

2:25 er hat Israel vertilgt,

2:26 alle seine Paläste vernichtet;

2:27 er hat seine Festungen zerstört

2:28 und hat der Tochter Juda

2:29 viel Seufzen und Wehklage bereitet.

2:30 Er hat seine Hütte verwüstet wie einen Garten,

2:31 den Ort seiner Festversammlungen hat er zerstört;

2:32 der HERR hat in Zion

2:33 die Festtage und Sabbate in Vergessenheit gebracht

2:34 und König und Priester verworfen

2:35 in seinem grimmigen Zorn.

2:36 Der Herr hat seinen Altar verabscheut,

2:37 sein Heiligtum verworfen;

2:38 er hat der Hand des Feindes preisgegeben

2:39 die Mauern ihrer Paläste;

2:40 sie haben im Haus des HERRN Lärm erschallen lassen

2:41 wie an einem Festtag.

2:42 Der HERR hatte sich vorgenommen,

2:43 die Mauern der Tochter Zion zu zerstören;

2:44 er spannte die Messschnur aus,

2:45 er zog seine Hand nicht zurück, bis er sie vertilgt hatte;

2:46 Bollwerk und Mauer versetzte er in Trauer;

2:47 kläglich liegen sie miteinander da.

2:48 Ihre Tore sind in den Erdboden versunken,

2:49 ihre Riegel hat er zerstört und zerbrochen;

2:50 ihr König und ihre Fürsten sind unter den Heiden;

2:51 es ist kein Gesetz mehr da,

2:52 auch bekommen ihre Propheten

2:53 keine Offenbarung mehr vom HERRN.

2:54 Die Ältesten der Tochter Zion,

2:55 sie sitzen schweigend auf der Erde;

2:56 sie haben Staub auf ihr Haupt gestreut

2:57 und sich mit Sacktuch umgürtet;

2:58 die Jungfrauen von Jerusalem,

2:59 sie senken ihr Haupt zur Erde.

2:60 Meine Augen sind ausgeweint,

2:61 mein Inneres kocht;

2:62 mein Herz schmilzt in mir

2:63 wegen des Zusammenbruchs der Tochter meines Volkes,

2:64 weil Kind und Säugling verschmachten

2:65 auf den Straßen der Stadt!

2:66 Sie fragten ihre Mütter:

2:67 »Wo ist Brot und Wein?«,

2:68 als sie wie tödlich Verwundete dahinschmachteten

2:69 auf den Straßen der Stadt,

2:70 als sie den Geist aufgaben

2:71 im Schoß ihrer Mütter.

2:72 Was soll ich dir zusprechen,

2:73 was dir vergleichen,

2:74 du Tochter Jerusalem?

2:75 Was setze ich dir gleich,

2:76 damit ich dich trösten kann,

2:77 du Jungfrau, Tochter Zion?

2:78 Dein Schaden ist ja so groß wie das Meer!

2:79 Wer kann dich heilen?

2:80 Deine Propheten, sie haben dir

2:81 erlogenes und fades Zeug geweissagt;

2:82 sie deckten deine Schuld nicht auf,

2:83 um dadurch deine Gefangenschaft abzuwenden,

2:84 sondern sie weissagten dir Aussprüche

2:85 voll Trug und Verführung.

2:86 Alle, die auf dem Weg vorübergehen,

2:87 schlagen die Hände zusammen über dich;

2:88 sie zischen und schütteln den Kopf

2:89 Über die Tochter Jerusalem:

2:90 »Ist das die Stadt, von der man sagte,

2:91 sie sei der Schönheit Vollendung,

2:92 die Wonne der ganzen Erde?«

2:93 Alle deine Feinde

2:94 sperren ihr Maul gegen dich auf,

2:95 sie zischen und knirschen mit den Zähnen;

2:96 sie sagen: »Jetzt haben wir sie vertilgt!

2:97 Das ist der Tag, auf den wir hofften;

2:98 jetzt haben wir ihn erreicht und gesehen!«

2:99 Der HERR hat vollbracht, was er sich vorgenommen hatte;

2:100 er hat sein Wort genau erfüllt,

2:101 das er von alters her hat verkündigen lassen;

2:102 er hat schonungslos zerstört;

2:103 er hat den Feind über dich frohlocken lassen

2:104 und das Horn deiner Widersacher erhöht.

2:105 Ihr Herz schreit zum Herrn!

2:106 Du Mauer der Tochter Zion,

2:107 lass Tränenströme fließen

2:108 bei Tag und Nacht,

2:109 gönne dir keine Ruhe,

2:110 dein Augapfel raste nicht!

2:111 Steh auf und klage in der Nacht,

2:112 beim Beginn der Wachen!

2:113 Schütte dein Herz wie Wasser aus

2:114 vor dem Angesicht des Herrn!

2:115 Hebe deine Hände zu ihm empor

2:116 für die Seele deiner Kinder,

2:117 die vor Hunger verschmachten

2:118 an allen Straßenecken!

2:119 HERR, schau her und sieh:

2:120 An wem hast du so gehandelt?

2:121 Sollten denn Frauen ihre eigene Leibesfrucht essen,

2:122 die Kinder ihrer liebevollen Pflege?

2:123 Sollten wirklich Priester und Propheten

2:124 erschlagen werden im Heiligtum des Herrn?

2:125 Auf den Straßen liegen am Boden hingestreckt

2:126 Knaben und Greise;

2:127 meine Jungfrauen und meine jungen Männer,

2:128 sie sind durchs Schwert gefallen;

2:129 du hast sie erwürgt am Tag deines Zornes,

2:130 du hast sie schonungslos niedergemacht!

2:131 Wie zu einem Festtag hast du zusammengerufen

2:132 alles, was ich fürchtete, von allen Seiten,

2:133 und nicht einer ist entkommen oder übrig geblieben

2:134 am Tag des Zornes des HERRN.

2:135 Die ich liebevoll gepflegt und großgezogen hatte,

2:136 die hat mein Feind vertilgt!

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